Siggi, 82, August 2023
Siggi ist mein Vater. Heute ist Siggi 82 Jahre alt und schwer an Alzheimer Demenz erkrankt. Vor drei Wochen habe ich nachts einen Anruf aus dem Pflegeheim bekommen, er hätte Blut gebrochen, eine Lungenentzündung sei diagnostiziert, der Notarzt sei da – soll er ins Krankenhaus? Als gesetzliche Betreuerin muss ich da gefragt werden. Ich habe mich gegen einen Krankenhausaufenthalt für ihn entschieden und konnte danach schwer wieder einschlafen. War das jetzt richtig? Stirbt er jetzt? Habe ich was falsch gemacht?
Vor ein paar Tagen habe ich ihn im Heim besucht, er war schon nahe am Ausgang mit seinem Rollstuhl geparkt. Die Pfleger meinten er freue sich. Ok, die müssen es ja wissen. Siggi spricht seit Monaten fast nichts mehr, das macht den Besuch nicht leicht, ich hoffe einfach, dass er sich freut und ja, es wäre schön, wenn er mich erkennt. 3 Sätze kommen manchmal raus – „Wo ist deine Mutter?“, „Habt ihr das Boot schon drin?“, „kommen die Kinder noch?“
Ich versuche ihm ein paar Worte zu entlocken. Nix da – heute spricht er nicht. Mein Vater war immer der Alleinunterhalter am Tisch, an jeder Ecke lauerte ein Witz, er konnte eine ganze Runde unterhalten mit seinen Geschichten. Immer war er im Mittelpunkt, er kannte Gott und die Welt. In den letzten Jahren vor der Erkrankung hat er das ernste Gespräch gesucht Er hat mich jeden Donnerstag angerufen, hat mir einige Familiengeheimnisse erzählt und mich viel gefragt, was ich mache, tue, denke – viele Wörter waren das, viel Sätze flogen hin und her durch den Hörer, irgendwie war es schon so, als sollten wir jetzt keine Zeit mehr verlieren und ganz schnell über fast alles sprechen.
Was wird aus einer Beziehung, wenn die Worte fehlen? Will er nicht oder kann er nicht? Mir kommt es so vor, als wäre für ihn alles auserzählt und wenn er schon nicht mit Worten und Witzen punkten kann, dann mit Nichtworten. Er lässt uns verschmitzt zappeln und rätseln, ob er ein Eis oder lieber Kuchen möchte, ob er vielleicht friert oder müde ist? Manchmal glaube ich, er kichert in sich hinein, weil wir verzweifelt bemüht sind seine Bedürfnisse zu erahnen. Ich halte seine Hand und wundere mich, wie unglaublich weich sie ist.
Mein Vater war Kranführer, ihn hat das Große Ganze interessiert, hat lieber betoniert anstatt ausgemessen. Ist mit seinem Kran mal umgefallen, mitten rein in ein Schiff im Hafen. Im Krankenwagen hat er den Rettungskräften gleich eine Ansage gegeben, in welches Krankenhaus sie ihn bringen sollen. Später dann hatte er einen Schlaganfall, ich kam ihn besuchen und er war mit meiner Mutter am Ball spielen. Üben und immer weiter machen- das war sein Credo.
Mit der Demenz lief alles aus dem Ruder, er litt unter Wahnvorstellungen und beschimpfte meine Mutter pausenlos unflätig, gemein und sehr laut. Er dachte sich unglaubliche Dinge aus, Nichts und Niemand konnte ihm das ausreden. Sprache hat ihn hier schon nicht mehr erreicht. Der Arzt meinte, Menschen, die an Demenz erkranken verletzen oft die am meisten, die ihnen am Nächsten sind.
In diesen Tagen gibt ihm meine Mutter immer wieder ihre Hand, sie ist glücklich, wenn er zudrückt. Sie erzählt ihm viel von früher, aus dem Alltag, von Leuten, die er kannte – manchmal ist da sowas wie Erinnern im Blick, sagt sie.
Mein Mann hat seine Kappe auf dem Tisch liegen lassen. Es ist heiß heute. Mein Vater wackelt mit Rollstuhl hin und her und grabscht nach der Kappe. Schwupps hat er sie auf dem Kopf und gibt sie nicht mehr her. Ich kann ihn dröhnend lachen hören und sehe ihn übers ganze Gesicht strahlen. Wieder mal alle überrascht.
Drei Fragen - stell sie dir doch auch einmal
Was habe ich von meinem Vater gelernt?
Meine Meinung vertreten, auch wenn sie anderen nicht gefällt, Genuss beim Essen und trinken, harmoniebedürftig sein, aber streitbar bleiben, Konsequenzen von Entscheidungen oder Verhalten aushalten, Leistung zählt, Krankmachen geht gar nicht, Wenn´s geht, kauf dir ein Haus. Großzügigkeit, Gastfreundschaft. Der 1.FC Köln ist der beste Fußballclub in der Bundesliga, auch wenn sie mal verlieren. Du kannst bei jedem Spiel gewinnen.
Was würde ich gerne nicht gelernt haben?
Mein oft undiplomatisches Verhalten, maßloser Genuss beim Essen und trinken 😊, Entweder/ oder – Haltung, ich mag dich oder nicht, diese Überpünktlichkeit, meine Ungeduld, meine Launen von jetzt auf gleich rauslassen wollen
Was kann ich noch lernen?
Nicht alles so schwer zu nehmen, das Leben genießen, nicht so nachtragend zu sein, immer positiv denken und sich immer wieder neue Ziele stecken und das Abenteuer finden. Mein Vater kam aus Düsseldorf, aber das Kölner Grundgesetz,– das war sein starker Halt: Et es, wie et es. Et hätt noch immer joot jejange. Wat fott es, es fott.
Mein Vater hat im Übrigen schriftlich verfügt, dass ein Aufkleber vom 1.FC Köln auf seine Urne kommt. Ich habe einen besorgt. Vorsichtshalber.
Das Kölsche Grundgesetz: Die 11 Regeln der Domstadt | koeln.de
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