Erika habe ich 1972 kennengelernt. Sie war in meiner Klasse, sah süß aus, war ein ganz ruhiges und schüchternes Mädchen und hatte eine sehr verschnörkelte Handschrift. Sie war ein angepasstes Mädchen, immer darauf bedacht es allen recht zu machen. Im Laufe der Jahre wurde mir ihre Traurigkeit immer bewusster, konnte damit aber nicht umgehen. Ich wollte Party. Wir waren viel zusammen unterwegs, Musik, Konzerte so Dorfveranstaltungen halt. Meistens habe ich am Wochenende bei ihr übernachtet. Sie wohnte auf einem Bauernhof. Irgendwelche Jungs haben uns immer nach Hause gefahren und dort haben wir bis in den Morgengrauen den elterlichen Kühlschrank geplündert. Unseren Eltern war es recht, weil wir wohlbehalten nach Hause kamen und aufeinander aufgepasst haben. Nun ja, sie hat wohl eher auf mich aufgepasst.
Mit 18 sind wir zusammen nach London geflogen, wow das war ein Abenteuer, ein unglaubliches Erlebnis in swinging London, jeden Tag neue Eindrücke. Für mich war es der Auslöser raus aus der Enge meines Dorfes zu wollen, ich bin dann bald weggezogen. Erika hat eine Ausbildung als Krankenschwester gemacht und konnte erstmals im Schwesternwohnheim so richtig loslassen.
Wir haben uns all die Jahre immer wieder ganz altmodisch seitenlange Briefe geschrieben und immer wieder getroffen. Sie wurde schwanger, hat geheiratet, wurde geschieden, war alleinerziehend und ist wieder zurück auf den elterlichen Hof. Sie hat als Gemeindeschwester gearbeitet und irgendwann war sie am Ende. Burnout, Depressionen? Ich weiß es nicht, ich war damals einfach ichbezogen und keine gute Freundin, ich habe das alles gar nicht so richtig wissen wollen.
Im Grunde meines Herzens weiß ich, dass Erika auch heute noch, wohl immer für mich da wäre. Sie würde mir den Kopf halten, wenn ich mich übergeben müsste, wie damals auf der Wiese und sie würde mir Geld geben, wenn ich was brauchen würde. Erika hat eine Sammlung von kleinen Dingen, die sie in ihrer Geschenkebox gelagert hat – da hat sie dann immer etwas da, wenn sie mal irgendwo hingeht. Sie brachte immer einen Korb voll Sachen mit und egal was ich mir überlegt hatte, ihre Geschenke waren immer mehr und besser.
Eigentlich hatte ich immer ein schlechtes Gewissen. Ich hatte auch ein schlechtes Gewissen, weil ich so ein vermeintlich „geiles Leben“ hatte und ich immer gar nicht so recht wusste wie ich sie erfreuen könnte. Erika weiß gar nicht, wie wichtig mir seit nunmehr 51 Jahren ist!
Was ich von ihr lernen konnte? Sie hat mir immer das Gefühl vermittelt, dass ich so gut bin, wie ich bin, war immer an mir und meinem Leben interessiert, hat sich selbst zurück genommen und ist für mich der Inbegriff einer langen, langen Freundschaft ohne wenn und Aber.
Was du jetzt aus dieser Geschichte machst, musst du selbst entscheiden.