Anneliese – August 2023
Anneliese ist heute 88 Jahre alt und hat so viele Schicksalsschläge wegstecken müssen, dass ich nicht müde werde, sie zu bewundern. Resilenz nennt man das jetzt Neudeutsch. Wir besuchen sie in ihrer blitzblanken Wohnung, in der sie seit 60 Jahren lebt. Hier wurden die beiden Kinder geboren. Die Tochter starb an Krebs, der Sohn an einem Herzinfarkt. Ihren Mann hat sie dort bis zum Tod gepflegt. Anneliese ist übrig.
Ihre Nachbarn helfen ihr bei dies und jenem. Es fällt ihr vieles schwer. In der Nähe hatte sie einen wunderschönen Garten, den musste sie aufgeben, es war doch zu beschwerlich alles zu bewirtschaften, so dass es ordentlich aussieht. Einkaufen muss sie ja auch noch und die Wohnung sauber halten. Ins Heim will sie nicht und wer soll das bezahlen?
Mit ihren 1040 Euro Rente kann sie keine großen Sprünge machen, für neue Tapeten hat sie eine Weile gespart. Sie ist froh, über die Rente, sie hätte ja kaum gearbeitet. Hat ja „nur“ 42 Jahre lang den kranken Mann gepflegt. Ein Schicksal, dass sie mit vielen pflegenden Frauen teilt, jahrzehntelang hat sie ihre „Pflicht“ getan, Rentenpunkte hat das nicht eingebracht. Weitere finanziellen Hilfen beantragt sie nicht. Es reicht ja.
Tante Anneliese jammert schon manchmal ein wenig über ihre Wehwehchen, aber wenn wir bei iihr sind kichert sie immer nur zufrieden. Kocht einen Kaffee, holt das gute Geschirr raus. Heute zeigt sie uns ihre tollen Servietten, die sie sich zu ihrem Geburtstag gegönnt hat. „Lasst uns das LEBEN feiern“
Warum ich über Tante Anneliese schreibe? Vor ein paar Jahren hat sich Tante Anneliese noch mal verliebt. Ihr war es dann doch egal was die Nachbarn darüber sagen, wieso eine 80jährige doch noch mal das persönliche Glück finden will. Mutig hat sie diese Chance ergriffen. Mutig stand sie zu ihrem neuen Lebensgefährten. Wir fanden s toll, endlich, endlich hat sie auch mal Glück.
Der ältere Herr, den sie sich geangelt hat, hatte ein Auto sie unternahmen Ausflüge, gingen Kaffeetrinken, sahen zusammen fern. Sie nannte ihn Schatz. Seine Frau war bereits verstorben, er wollte mit Anneliese zusammenziehen – aber diesmal sagte sie nein.
Kurze Zeit später bekam ihr Schatz massive Augenprobleme und konnte sich nicht mehr selbst versorgen, aber Anneliese sagte weiter nein. 42 Jahre Pflege sind genug, ich will nicht mehr! Das war mutig. Endlich mal ein wenig Egoismus, ein Stoppschild, ein bis hierhin und nicht weiter. Sie hat sich entschieden, heute lebt sie weiter alleine. Der Schatz ist auch gestorben, sie denkt ganz gerne an ihn zurück.
3 Fragen
1. Wann warst du einmal mutig?
2. Wann hat dir der Mut gefehlt?
3. Was ist rückblickend das Gute daran, keinen Mut gehabt zu haben?